Montag, Februar 20, 2006

Loccum - Europa 1

Was ist europäische Identität im Europa der Kulturen? Oder: Wozu brauchen wir europäische Kulturpolitik?

So lautete der Titel des dreitägigen Kolloquiums an der Evangelischen Akademie in Loccum. Die Veranstaltungen dort sind in der Regel offen und die Vorträge von den Podien und die Diskussionsbeiträge der Zuhörenden werden als Transkript veröffentlicht.
Aus diesem Grund nenne ich hier auch Namen, denn alles wird objektiver in diesem Jahr auch noch in gedruckter Form vorgelegt. Alles folgende ist meine subjektive Einschätzung und eine Rekonstruktion anhand meiner Notizen. Doch hier beginnt meine Nacherzählung. Ich werde jedem Tag einen Blogeintrag widmen und schließlich in einem vierten Teil meine zusammenfassende Einschätzung abgeben.

Freitag, 17. Februar 2006
Es haben sich Institutionen und Netzwerke herausgebildet, die auf der Ebene der EU oder sogar umfassender auf einer europäischen Ebene Kultur und speziell Kunst fördern. Viele dieser institutionellen Akteure waren prominent auf der Tagung in Loccum vertreten.

In den Einleitungen wurden sowohl vom Akademiedirektor Dr. Fritz Erich Anhelm als auch vom Präsidenten der mitveranstaltenden Kulturpolitischen Gesellschaft Dr. Oliver Scheytt darauf verwiesen, dass die Tagung einen Beitrag auf der Konzeptebene leisten sollte. Es sollte also nicht um die Prozessebene europäischer Kulturpolitik gehen, sondern es sollte eine Annäherung an ein Ziel solcher Politik versucht werden.

Der erste Ministerialdirektor beim Beauftragten für Kultur und Medien der Bundesregierung Dr. Knut Nevermann kritisierte in seinen einleitenden Vortrag den Begriff der Identität, da er in seiner kollektiven Ausprägung eine Abgrenzung vom Anderen/Fremden erfordert und damit einen Dialog erschwert. Europa und die Europäer (und ihre Kultur) sind aus der Fremde klar zu definieren. Intern definiert sich Europa über Werte, wie sie in der Grundrechtecharta niedergelegt wurden.
Der European Value Service und das Eurobarometer zeigen aber ein anderes Bild. Mit aktuellen Zahlen wurde gezeigt, dass christliche Tradition von den kulturellen und politischen Eliten als eine Grundlage angesehen werden, aber weniger als 20 Prozent der befragten Bevölkerung in der EU erklärten, dass Religion für sie persönlich eine Bedeutung hat oder Religion einen Einfluss auf ihre Meinung zu einzelnen Politikern hat. Signifikante Unterschiede gab es nur in den Ergebnissen der Beitrittsländer, in denen von ein Drittel bis zwei Drittel der Bevölkerung Religion eine Bedeutung beigemessen wird. Jo Leinen (MdEP) entgegnete hierauf, dass ähnlich abweichende Ergebnisse vom statistischen Durchschnitt vor 20 Jahren in Spanien oder vor 10 Jahren in Polen gemessen wurden. Nach einer Mitgliedschaft in der EU würde anderen Werten (Grundrechte!) innerhalb weniger Jahre eine größere Bedeutung als die Religion beigemessen.
Nevermann kritisierte vehement, dass Kulturpolitik vor allem Strukturen und viel zu wenig Künstler fördert. Abschließend verwies er auf die Etatverhandlungen für 2007-2013, in denen Kultur einen deutlich reduzierten Ansatz erhielt und weniger als 30 Millionen Euro pro Jahr für die gesamte EU27 (inklusive Bulgarien und Rumänien) beschlossen wurden.

Im ersten Podium wurde dann das Verhältnis von Identität und Interesse innerhalb von Europa sehr kontrovers debattiert. Der Historiker Prof. Dr. Jörn Rüsen vom Kulturwissenschaftlichen Institut Essen betonte, dass es eine kollektive Europäische Identität gibt. Er kritisierte aber die Darstellung einer Teleologie der europäischen Werte, denn die Entwicklung Europas sei nur durch eine kritische Auseinandersetzung mit ihren Schatten (Kreuzzüge, Imperialismus, Antisemitismus) verständlich. Der reale Eurozentrismus führt nur zu einen traditionellen Universalismus, wie er in vielen Kulturen bekannt ist. Europäische Identität ist eine offene Identität, die von einer Anerkennung der Differenz lebt.
Der Politologe Prof. Jerzy Maćków von der Universität Regensburg hielt wenig von der Wertedebatte, denn je größer ein Kollektiv sei, dass eine Meinung zu einer Identität führen möchte, desto plumper sind die Ergebnisse. Es sei ein Mythos der Geschichte, dass es eine gemeinsame europäische Geschichte gebe, denn das gemeinsame sei das Ausgrenzen gewesen.
Er erinnerte daran, dass Identitäten auf der Ebene einer Nation stets konstruiert wurden. Während des großen wirtschaftlichen und sozialen Prozesses der ersten Modernisierung mit der Auflösung tradierter sozialer Bindungen (17.-19. Jahrhundert) wurde die Nation zu einer neuen Identifikationsebene genutzt. Die Konstruktion einer europäischen Identität kann nicht gelingen, da die aktuellen sozialen und wirtschaftlichen Veränderungen der Globalisierung nicht dieselbe Qualität haben.
Europa und speziell die EU hat in zwei Krisen gezeigt, dass es keine europäische Identität gibt. Die zwei Kriege auf dem Balkan werden immer noch nicht reflektiert und der Irakkrieg zeigte die Wiederbelebung extremen Nationalismus, der sich auf lange historische Kontinuität berief, obwohl diese nicht mehr existierten. Europa ist Einheit in Vielfalt innerhalb eines Rechtsstaates.
Die Thesen der Politologin Dr. Ulrike Guérot vom German Marshall Fund aus Berlin konzentrierten sich auf die möglichen Interessen der Europäer. Dem Prozeß gemeinsame Werte zu stabilisieren und dies innerhalb einer Verfassung zu ratifizieren, kommt dabei ihrer Meinung nach eine herausragende Bedeutung zu. Die EU sollte viel stärker geostrategisch argumentieren und agieren und nicht im bestehenden Altruismus verbleiben. Von der Einwohnerzahl und der Wirtschaftsmacht könnte die EU innerhalb der G8 oder des IMF viel deutlicher ihre Interessen artikulieren und durchsetzen. In der Außenwahrnehmung (vor allem der USA) gibt es ein Europa, dass sich zu einer Macht (Empire-Debatte) innerhalb einer multipolaren Welt (USA, EU, China, Indien) entwickelt. Die Rotation von Verantwortung führt jedes halbes Jahr zu neuen national geprägten Schwerpunkten, die eine kontinuierliche EU-Außenpolitik verhindern. Der weiter bestehende Nationalismus innerhalb der EU führt zu systematischen Problemen. Polemisch fragte sie, wofür Dänemark und andere Staaten zum Beispiel einen Außenminister brauchen. Abschließend wurden Puzzleteile einer europäischen Identität benannt. Europa ist demnach ein Prozeß und ein Projekt der Moderne; Europa ist universalistisch und möchte seine Werte verbreiten; Europa ist metaphorisch aber auch real, denn die Gravität seiner Existenz (Reisefreiheit, Währung) ist nicht zu unterschätzen.
Insbesondere der letzte Beitrag führte zu viel Polemik und zeigte damit wie sehr diese Thesen das Podium und die Zuhörenden aufgewühlt hatten. In der Debatte wurden einige Aussagen relativiert bzw. konkretisiert. Rüsen verweis darauf, dass die frühe Neuzeit viel europäischer war, als die Zeit des Nationalismus. Maćków sagte, dass erst eine Nation entstehen muss, bevor in einem zweiten Schritt der Nationalismus Richtung Europa überwunden wird. Er verwies auf die Beispiele mehrerer der neuen EU-Mitglieder und die Ukraine mit ihrer multiplen Identität und Belarus mit einer weitverbreiteten lokalen Identität. Guérot wurden von Rüsen darauf hingewiesen, dass Nationalismus immer aggressiv war und ihre Forderung nach einer europäischen Nation diese Gefahren ausblendet. Guérot entgegnete, dass die EU sie an das Wanderkönigtum unter Heinrich IV erinnert. Nur in dem Land der jeweiligen EU-Präsidentschaft findet eine intensive Auseinandersetzung mit europäischer Politik statt.

Der Tag wurde mit einem Plädoyer von Dr. Volker Hassemer, Senator a.D. von der Berliner Konferenz für europäische Kulturpolitik abgeschlossen.

1 Kommentar:

Anonym hat gesagt…

Danke für den ausführlichen Kommentar zu der Tagung. Es geht mir allerdings nicht so sehr um die Inhalte, sondern eher darum das Gefühl gehabt zu haben wieder in ein Stück, hm »intellektuelles« Leben hineingeschnüffelt zu haben. Ich konnte aus dem Text förmlich die Atmossphäre dieser (oder einer) Tagung herausschnüffeln. Im Guten wie im Schlechten natürlich: Die wichtigen Leute und die unwichtigeren Zuhörer, die in ihre Zusammenhänge eingebundenen Funktionsträger und die diskussionserprobten Tagungsprofis – herrlich!
Das Unileben ist doch schon weit weg und Gespräche die sich nicht um Geld, Firma oder glücklicherweise Musik drehen sind seltener geworden. Das war mal ein Flashback der angenehmen Art.