Dienstag, April 25, 2006

Tschernobyl – Erinnerungen aus Hannover

Genau vor 20 Jahren (26. April 2006) explodierte einer der vier Reaktoren des AKW Tschernobyl. Am Montag, dem 28. April konnte diese Katastrophe nicht mehr verschwiegen werden und die Sowjetunion gab offiziell einen Unfall bekannt. Seit dem 29. April fand eine umfassende Information durch die alternativen Medien (vor allem die taz) statt, da die CDU-Bundesregierung unter Helmut Kohl vor allen beruhigte und beschwichtigte. In der taz waren alle Atomkraftgegner und der bis zu 10-jährige Kampf gegen den Bau und Betrieb von AKWs hatte innerhalb der Anti-AKW-Szene natürlich auch zu einem umfassenden Fachwissen über Aufbau, Funktionsweise und Gefahrenquellen eines AKW geführt.
Die alternativen Nachrichtenquellen konnten sich nicht nur wegen ihrer verlässlichen und verständlichen Informationen damals viel Respekt verdienen, sondern die herkömmlichen Medien blamierten sich, weil sie die Vertuschungen und Verdrehungen (=Lügen) der Sowjetunion und der Bundesregierung zu unkritisch wiedergaben.

Wie war das in Hannover, an was kann ich mich erinnern. Ich lebte zusammen mit vier weiteren Studierenden (zweimal Medizin, Landespflege und Musik) in einer Wohngemeinschaft am Moltkeplatz. Das ganze Haus war eine Gelddruckmaschine der unangenehmen Besitzerin Frau Behrens, die diese heruntergekommenen, großen, ehemaligen Offizierswohnungen zu so hohen Mieten anbot, die sich nur Wohngemeinschaften leisten konnten. Natürlich lebten wir alternativ. Es gab wenig Fleisch, Kaffee aus Nicaragua und leckeres selbst gemachtes Müsli. Viele Aktivitäten wurden gemeinsam gemacht. Konzerte, Kino, Demonstrationen. Und natürlich hatten wir ein Abo der taz.

Am 29. oder 30. April fand eine relativ spontane Demonstration auf dem Steintorplatz statt. Die Pritsche eines Lieferwagens war die Bühne und die lauten, aber schlecht zu verstehenden Lautsprecher waren links und rechts davon. Es war eine von diesen ersten Kinderwagendemonstrationen. Viele Mütter hatten ihren Spaziergang mit den Kinderwagen zum Steintor gelenkt. Ein ungewöhnlicher Anblick, wie auch der immer wieder ängstliche Blick in den bewölkten Himmel. Bis dahin war noch kein Regen in Hannover gefallen, aber für diesen Nachmittag war die radioaktive Regenwolke für Norddeutschland angesagt. Die Forderungen von der Bühne waren vor allen Forderungen nach mehr Informationen.

Als es zu Nieseln anfing und es sich abzeichnete, dass daraus richtiger Regen wird, war die schnellste Auflösung einer Demonstration zu erleben. Einige Personen kletterten auf die Bühne, um sich dort unterzustellen, andere verteilten sich in Hauseingängen. Diese Informationsveranstaltung war beendet. Die Angst war nicht hysterisch, denn die in den nächsten Tagen veröffentlichten Werte von beregneten Flächen ergaben mehrere 1.000 Becquerel/Kilo.

Es dauerte nur wenige Tage bis aus der Informationsnot eine Tugend wurde. Die Bundesregierung desinformierte und als die Grenzwerte bei Milch und anderen täglichen Gütern deutlich überschritten wurden, wurde die Grenzwerte erhöht (analog zum Kalauer, wenn das Volk mit der Regierung unzufrieden ist, wählt sich die Regierung ein neues Volk). Messgeräte, die zur Messung des Fallouts der Atomtests in den Universitäten standen, wurden schnell durch Neuanschaffung interessierter Wissenschaftler ergänzt und der tägliche Strahlenkompass auf Seite 2 der taz und Zettel in den Bioläden gaben konkrete, aktuelle Werte für Produkte, die auf den Einkaufszetteln standen.

Die Ernährung in unserer Wohngemeinschaft wurde auch umgestellt. Wir tranken so lange noch Frischmilch, wie die Werte akzeptabel erschienen; dann wurde lang haltbare H-Milch gekauft, womit wir mehrere Monate überbrücken konnten. Ein herber Einschnitt war das Ende von Nussnougatcreme auf dem Frühstückstisch. Haselnüsse waren am Billigsten in der Türkei zu bekommen und die Hersteller kauften aus dem Gebiet an der Schwarzmeerküste, die besonders vom radioaktiven Fallout betroffen war. Wenn ein Produkt wie diese Nüsse extreme Werte aufwies, sagten wir im Scherz, dass es vermutlich in der Nacht leuchtet. Das gemeinsame Pilze sammeln des Jahres 1985 haben wir nicht wiederholt und ich habe seitdem auch keine Waldpilze mehr gegessen. Es beruhigt mich auch überhaupt nicht, dass die 600-4.000 Becquerel/Kilo mit denen einige Pilze bis heute (und auch in den nächsten 20-50 Jahren – die Messwerte sind ein Großversuch an der europäischen Bevölkerung und seiner Umwelt) strahlen nicht „so gefährlich“ (Regierungsblabla 1990-2006) sei, da nur geringe Mengen im Jahresverlauf gegessen werden. Jede Aufnahme von Gift ist gefährlich! Es gibt keinen unbedenklichen Becquerelwert.
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siehe auch:
19. April Tschernobyl - Chernobyl : Tücken der Opferstatistik
23. April Euphemismus Kernkraft
27. April Wikipedia-Skandal Atomkraft

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