Dienstag, Januar 31, 2006

ARGE – Notizen zur sozialen Realität

Seit der Zusammenfassung von Arbeitslosenhilfe und Sozialhilfe zum Sozialgeld stehe ich als Arbeitsloser zusammen mit sozial Schwachen regelmäßig in einer Schlange von Bedürftigen, die Unterstützungsleistungen beantragen oder verlängern.
So auch am heutigen Morgen. Um 8:00 Uhr öffneten sich die Türen und ich stand etwa an achter Position. Stimmen im Bassbereich (Männer wie Frauen) zeugten vor und hinter mir vom regelmäßigen Konsum von Tabak und vermutlich Alkohol. Es ist schon wichtig unmittelbar zur Öffnung der Behörde zu erscheinen, da angetrunkene und nach Alkohol stinkende Menschen sich noch nicht einfinden. Als ich an einen Tag Dokumente nachreichte, sah ich die Haute Couture de Rostock (seit der Nazi-Attacke auf eine Ausländerunterkunft und den applaudierenden, sozial schwachen Mitbürgern ein stehender polemischer Ausdruck), also schmutziger, ausgeleiherter Trainingsanzug und konnte diesen Geruch aus einer Mischung von ausgeschwitztem Alkohol und billigem Rasierwasser erleben.

Es gibt keine Vertraulichkeit. Schilder weisen auf den Abstand, den die Wartenden zur Beratungstheke halten sollen. Das klappt auch, aber da diese neue Behörde in einen Zweckbau mit glatten Wänden eingerichtet wurde, ist jedes Wort eines Antragstellenden und die Bemerkungen der Fachleute hinter der Theke klar zu verstehen. Hinter mir gab es Kommentare der Kategorie „Neid“ kombiniert mit dem xenophoben Zusatz, die sollen erst mal Deutsch lernen. Mutter und Großmutter einer Aussiedlerfamilie radebrechten zwanzig Minuten lang ihre Anliegen. Der Kommentar hinter mir war auch nicht klar zu verstehen, da es ein sächsisches Genuschel im restringierten Code war.
Es verging eine Stunde, bis ich mein Anliegen vortragen konnte. Bemüht mit einer klaren, aber nicht so lauten Stimme zu sprechen, wurde mein Versuch der Vertraulichkeit von der Mitarbeiterin konterkariert, da alles von ihr zur Bestätigung mit klaren, deutlicher Stimme wiederholt wurde.

Ich vermute hierbei, nicht bei den beratenden Angestellten oder der lokalen Leitung, sondern bei den Beamten, die dieses Gesetz und seine Ausführungsverordnungen formuliert haben, eine psychologische Intention.
Früher (also vor 14 Monaten!) wurden alle Gespräche (selbst einfache Informationsabfragen) sowohl im Sozialamt als auch in der Agentur für Arbeit stets hinter verschlossen Türen geführt. Nur im Beisein eines Sachbearbeiters und maximal (bei geteilten Büros) eines weiteren Sachbearbeiters und seines „Kunden“ wurden Fragen abgeklärt. Man zog halt vorher eine Nummer und wartete auf seinen Aufruf.
Es ist bekannt, dass bereits früher finanziell Abgesunkene und insbesondere Seniorinnen nicht unbedingt Unterstützungsleistungen vom Staat oder der Kommune beantragten, obwohl sie deutliche Ansprüche haben. Dies wurde und wird als eine Schande und ein Eingeständnis von eigenen Fehlern angesehen. Der Psychostress in der Öffentlichkeit seine Finanzen und Aussichten auf zukünftige Finanzen zu äußern, wird bei unserer kalten Sozialdebatte um „Schmarotzer“, die dem Staat nur auf der Tasche liegen, weitere Personen von einem Antrag auf Unterstützung abhalten. Ich glaube, dies ist intendiert.
Unsere Sozialdebatte verläuft sowieso an der Realität vorbei. „Jeder der arbeiten will, findet auch Arbeit“, ist dabei noch der dümmste und dennoch häufigste Spruch, den ich mir sogar in der Familie anhören musste. Ach ja, 4,5 Millionen Arbeitslosen wollen nicht arbeiten? Dieser Sozialpopulismus ist nicht weit entfernt von der reaktionären Politik für die Menschen, die keine Unterstützung benötigen, aber über Abschreibemodelle und andere Methoden vermutlich pro Person mehr staatliche Mittel abschöpfen, als die Bedürftigen.

Als ich die ARGE verliess, umfasste die Schlange der Wartenden etwa vierzig Personen. Die letzten in der Reihe würden bei der erlebten Bearbeitungszeit je Person noch mehr als zwei Stunden stehend darauf warten, dass sie ihr Anliegen vortragen können.

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