Sonntag, Januar 15, 2006

ARTE TV

Gestern Abend sah ich erstmals Das Forum der Europäer, eine wöchentliche bilinguale Diskussion auf unserem Kulturkanal ARTE. Eine französische und ein deutscher Redakteur diskutierten mit einem französischen Publizisten und einem ungarischen Chefredakteur über das Thema „Die Zukunft liegt im Osten!“. Es wurde direkt übersetzt und so konnte in drei Sprachen diskutiert werden und dennoch ohne Probleme den Ausführungen gefolgt werden.
Neben der Diskussion wurden Filmbeiträge aus der Slowakei, Estland und Polen eingespielt.

Der Beitrag aus Estland war für mich revolutionär. Ich hatte bereits gehört und gelesen, dass die regierende Elite deutlich jünger als in anderen Staaten ist. Der ehemalige Ministerpräsident (jetziger Oppositionsführer) und der Außenminister wurden vorgestellt. Der Ministerpräsident verwies darauf, dass er mit Anfang 30 sehr jung war, als er die Regierung übernahm, aber das sowohl sein Außen- als auch sein Finanz- und Justizminister noch jünger waren. Eine Anekdote aus dem Beginn seiner Regierungszeit zeigt wie ungewöhnlich das Kabinett war. Zum Antrittsbesuch in Brüssel bei der Europäischen Kommission wurde der Ministerpräsident von den Sicherheitskräften gefragt, wo denn der Ministerpräsident sei.
Das folgende Gespräch startete mit einer Befragung des ungarischen Journalisten. Leider war der junge Chefredakteur aus Budapest sehr handzarm. Die gezielten Provokationen der anderen drei Diskutanten wurden stets windelweich erwidert, à la „so könnte man das auch sehen“. Er sagte zwar, dass der Wunsch Menschen ohne kommunistische Vergangenheit in Führungspositionen zu bringen, viele sehr junge Menschen bereits während des Studiums in Verantwortung führte. Doch dies führt nun dazu, dass sowohl in Ungarn als auch in Estland, eine Mentalität von hire & fire entstanden ist und die neuen Jungen (25 Jahre) nun die neuen Alten (35+) von ihren Positionen verdrängen wollen.
Ich finde es gut, wenn junge Menschen früh Verantwortung übernehmen können, vor allem weil dann bestimmte Denkblockaden noch nicht bestehen und scheinbar Unmögliches ausprobiert und möglicherweise erfolgreich initiiert wird. Ich argumentiere selbst ja von keiner etablierten Position -also nicht als ein Besitzstandswahrer-, wie die drei westeuropäischen Journalisten, da mir regelmäßige Arbeitslosigkeit für mehrere Monate nicht fremd ist.
Dennoch folge ich allen vier Diskutanten in ihrer Meinung, vor einigen Folgen von volkswirtschaftlichen Experimenten zu warnen. Für Wirtschaftswissenschaftler mag zum Beispiel eine flat tax überzeugend erscheinen, aber das gesamte Sozialsystem wird ausgehöhlt und innerhalb weniger Jahre extreme Unterschiede im verfügbaren Einkommen geschaffen. Gleichzeitig werden Korruption und andere Kriminalität mit dem neuen Motto get rich in a few years gefördert. Von den kommenden sozialen Unruhen möchte ich gar nicht spekulieren. Es entwickelt sich etwas das Elemente des sogenannten Manchester Kapitalismus des 19. Jahrhunderts mit dem aktuellen American Way of Life unter „W“ kombiniert.

Das Forum der Europäer ist eine Sendung, die ich mir öfter anschauen werde! Am 28. Januar 2006 um 19.00 Uhr geht es um das Thema: Ist Europa fremdenfeindlich.

2 Kommentare:

Anonym hat gesagt…

Ich befürchte, dass wenn man in den osteuropäischen Ländern, die in der mittleren Zeitperspektive den Wohlstand des Westens nicht erreichen können, das soziale (Steuer)system einführen würde, würde dies die Staaten mit rascher wirschaftlicher Entwicklung einfach ruiniren. Und wer will schon eine ruinierte Zukunft haben?

Natürlich sollte man die Interessen der Bürger und nicht nur die Interessen der angeblich anti-gerontokratischen Elite befolgen, aber für die solidarische Neuverteilung des Vermögens muss es doch etwas zum Verteilen geben.

P.S. Unser Präsident ist ein "ehemaliger Kommunist", aber keine seriöse Person hat kein Problem damit.
Dennoch muss ich sagen, dass es bedauerlicherweise in Estland tatsächlich junge gebildete Menschen gibt, deren Denkweise noch allzu stark von den grauererregender Erlebnissen ihrer Eltern beeinflusst wird. Obgleich man nicht erwarten kann, dass jeder Mensch die Gesellschaft differenziert betrachtet, ärgert es mich in der letzten Zeit immer mehr, dass diese Menschen sich keine Gedanken über die hassvolle Begründung ihrer Gesinnung machen.

Brauel in Ulaya hat gesagt…

Viele der relevanten großen Denker der letzten 100 Jahre kommen aus linken Positionen und die wirklich kreativen Politiker, die Diskussionen in Deutschland anstossen und voranbringen werden entweder als Linke in der CDU (eigentlich ein Widerspruch; ich meine hiermit z.B. Prof. Dr. Rita Süssmuth) oder pauschal als Linke (Cohn-Bendit in Brüssel) bezeichnet und oftmals beschimpft.
Es gibt leider eine zunehmende Zahl von politisch Verantwortlichen, die meinen das die neoliberalen Wirtschaftstheorien sich in die Realität umsetzen lassen. Die Armut zum Beispiel in Chile basiert auf einer Durchsetzung dieser Theorien während der rechten Diktatur. Nun ist Chile ein "normales Land" geworden; mit Ultrareichen, die in ihren Besitz mit ganzen Regionen und Städten konkurrieren können und fast 20 Prozent Bevölkerung, die unter der Armutsgrenze leben.
Diese Auswirkungen der Liberalisierung (noch vor der so genannten Globalisierung) lassen sich mehrere Staaten nachweisen. Die soziale Ausdifferenzierung wird nun auch in Deutschland gefördert, damit die Menschen auch wieder niedrig bezahlte Arbeit annehmen. Arbeit von der kein Mensch in Deutschland leben kann; Arbeit die dann vom Staat durch Zuschüsse ergänzt werden muss. In den letzten 10 Jahren sind die Einnahmen (netto nach Abzug der Inflation) aus Beschäftigung gleich geblieben und für viele Lohngruppen und Berufe sogar gesunken. Die Einnahmen aus Zinsen und unternehmerischer Tätigkeit sind dagegen um 70 Prozent gewachsen. Ob Helmut Kohl (CDU), Gerhard Schröder (SPD) und jetzt Angela Merkel (CDU): es findet eine Umverteilung statt, von oben nach unten!