Montag, Mai 29, 2006

Gabriele Goettle spricht mit der Medizinhistorikerin Ortrun Riha

Gabriele Goettle ist eine ungewöhnliche Essayistin. Sie ist eine so genannte freie Journalistin, die mit ihrem sehr persönlichen Reportagestil Einblicke in Lebenswelten ungewöhnlicher Menschen bietet. Der Titel ihrer Rubrik Freibank – Kultur minderer Güte amtlich geprüft verweist den neuen Lesenden bereits auf einen ungewöhnlichen Text.
Etwa einmal im Monat hat sie zwei Druckseiten in der taz, um eine Person vorzustellen. 1991 wurden ihre Essays von 1989-1991 in der Reihe Die Andere Bibliothek unter den Titel Deutsche Sitten – Erkundungen in Ost und West publiziert. 1994 folgte in derselben Reihe der Titel Deutsche Bräuche – Ermittlungen in Ost und West.
Was macht ihre Reportagen und Essays so lesenswert und ungewöhnlich. Es wird jeweils eine Person befragt und deren Aussagen nicht wortwörtlich, aber im Plauderton wiedergegeben. Damit wird sie zur Protokollantin, die Aussagen verständlich wiedergibt. Damit werden Fachwörter und Stil einer befragten Person abgemildert. Unvermittelt finden sich dann im Text auch immer wieder Anmerkungen und Beschreibungen der Gesprächssituation, die einen erinnern, dass hier nicht die befragte Person erzählt.
Es sind natürlich die ausgewählten Personen, die diese langen Texte so interessant machen. In den beiden oben genannten Bänden wurden zum Teil noch mehrere Personen und ihr Lebensumfeld vorgestellt. Es sind die Jahre der Übernahme der DDR durch die Bundesrepublik mit Auflösung von etablierten Lebensformen im Osten und Westen.

In den späten 1990-er Jahren begleitete sie eine Gruppe von verarmten Berlinern und stellte in Suppenküchen, kirchlichen Kaffeenachmittagen und den Elendsunterkünften Menschen und ihre gescheiterten Lebensentwürfe vor. Es waren sehr mitfühlende Reportagen. Aktuell scheint ihr Thema Krankheit und Tod zu sein, denn sie sprach mit der Präparatorin an der Charité und der Mouleurin vom Hygiene-Museum Dresden, einer Bestatterin, einer Rechtsmedizinerin und heute findet sich ein Text über die Medizinhistorikerin Prof. Dr. Ortrun Riha.
Deren Interesse ist Ethik und die alte Geschichte der Medizin. Als Direktorin des Karl-Sudhoff-Instituts an der Universität Leipzig untersteht ihr eine der größten Fachbibliotheken und medizinhistorischen Sammlungen in Deutschland. In Goettles Stil wird die Geschichte des Schwarzen Todes (1347-1350) und seine Auswirkungen auf die Gesellschaft nacherzählt. Sie geht nur von einer durchschnittlichen Gesamtmortalität von etwa zehn Prozent aus, aber die Panik führte zur Entvölkerung ganzer Landstriche und Siedlungen.
Sie macht eine interessante generalisierende Aussage über Seuchen und dabei kommt natürlich die kommenden Influenza-Pandemie in den Sinn. Es wird gesagt, dass bei Seuchen, die verwaltungstechnische Bewältigung wichtiger ist als die medizinische. Im Seuchenfall werden die Bürger immer entmündigt, sie werden zum Objekt der Amtshandlungen.

Ich folge dieser Argumentation. Die Ausgabe von Influenzamedikamenten nach dem Ausbruch der Pandemie an Polizei, Feuerwehr und Verwaltung ist dabei ein Teil einer administrativen Triage. Es werden zunächst die Menschen geschützt, die das System schützen und in einem zweiten Schritt ausgewählte Patienten (eher Jüngere als Ältere). Den Ärzten wird nichts vorzuwerfen sein, das sind politische Entscheidungen.

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